Arbeiterbewegung

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Zeitgleich mTF_Arbeiterbewegung_KinderFavoriten2_PID_BM10it der modernen bürgerlichen Gesellschaft entstand beim Übergang von der Manufaktur- zur Fabriksproduktion am Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue verarmte Unterschicht, die man als "arbeitende Classe" bezeichnete und die v.a. aus Taglöhnern, Handlangern und Gelegenheitsarbeitern bestand.

Da die industrielle Produktion dem Kleingewerbe, aber auch den ländlichen Heimarbeitern zunehmend den Lebensunterhalt entzog, sahen sich viele Menschen gezwungen, auf der Suche nach Arbeit in die Industriezentren zu übersiedeln, wo sie das Heer des "Lumpenproletariats" stetig vergrößerten. Die Arbeitszeit betrug oft 14 bis 16 Stunden täglich, wobei seitens der Unternehmer die billigere Kinder- und Frauenarbeit bevorzugt wurde.

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Die desolaten Wohnverhältnisse, die unzulängliche medizinische Betreuung und die fehlende Vorsorge für Krankheit, Unfall und Alter taten ein übriges, um die Lebenserwartung der arbeitenden Menschen äußerst niedrig zu halten.

Die Armut und das Elend entluden sich vielfach in spontanen Unruhen, bald kam es aber auch zu ersten Solidaritätsaktionen. So entstanden – aus der Tradition der "Gesellenladen" – die ersten Hilfskassen (zum Beispiel 1842 in Linz), aus denen später die Kranken- und Arbeitslosenunterstützungs- sowie die Konsum und Vorschussvereine hervorgingen.

Zu einer ersten Organisation der Arbeiter kam es während der Revolution von 1848, als sich in Wien ein "Arbeiterkomitee" bildete, das den zehnstündigen Arbeitstag und Lohnerhöhungen durchsetzte.

Am 24. Juni 1848 wurde vom Buchbindergesellen Friedrich Sander der "Erste Österreichische Arbeiterverein" vorwiegend aus Gesellen des Kleingewerbes gegründet. Nach der Niederschlagung der Revolution im Herbst 1848 verbot die Regierung alle derartigen Vereine, mit Ausnahme der Gesellenvereine des deutschen Priesters Adolph Kolping, die ab 1852 zur Gesellenbetreuung eingerichtet wurden.

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen Industrialisierung und Verstädterung weiter zu. Allein die Einwohnerzahl der Reichshauptstadt Wien, Ausgangspunkt der österreichischen Arbeiterbewegung, wuchs von 431.147 im Jahr 1851 auf 827.567 im Jahr 1890.

Immer mehr Arbeiter waren nun in Großbetrieben beschäftigt, wo die Organisierung der Arbeiterschaft einfacher zu bewerkstelligen und die Kampfform des Streiks wirkungsvoller einzusetzen waren. Ab 1861 wurden neue Arbeitervereine, die zumeist noch auf zünftischer Basis standen, gegründet. Der 1867 gegründete Gumpendorder Arbeiterbildungsverein war jedoch bereits branchenübergreifend organisiert.

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Bald entstanden auch in anderen Städten ähnliche Vereine, und 1872 gab es bereits 59 Arbeiterbildungs- und 78 Gewerkschaftsvereine mit zusammen etwa 80.000 Mitgliedern; der Wiener Arbeiterbildungsverein zählte allein 35.000 Mitglieder.

Ideologisch orientierten sich diese Vereine an den deutschen Sozialdemokraten und sympathisierten mit der Ersten Arbeiterinternationale von 1864; damit boten sie den Behörden einen willkommenen Vorwand zum Verbot. 1870 wurde gegen die Exponenten des Wiener Vereins ein Hochverratsprozess angestrengt. Im gleichen Jahr beschloss der Reichsrat jedoch ein Koalitionsgesetz, das den Arbeitern die legale Bildung von politischen Vereinen ermöglichte.

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Zu Ostern 1874 vereinigten sich die verschiedenen sozialdemokratischen Organisationen auf einem geheimen Parteitag im burgenländischen Neudörfl zur "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreich". Die 74 Delegierten beschlossen ein Parteiprogramm (Neudörfler Programm), das die Grundlage für den Aufbau einer selbständigen, sozialdemokratischen und internationalen Arbeiterpartei bot.

In den folgenden Jahren kam es allerdings innerhalb der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung zu heftigen Auseinandersetzungen und Richtungsstreitigkeiten zwischen den "Gemäßigten" um Heinrich Oberwinder und den "Radikalen" um Andreas Scheu.

Die Radikalen traten für eine sofortige Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch einen revolutionären Aufstand ein. Die Gemäßigten vertraten dagegen die Auffassung, dass sich der Kapitalismus erst voll entwickeln müsse, ehe der Sozialismus angestrebt werden könne. Sie beschränkten sich daher auf die Erkämpfung sozialer Reformen auf friedlichem Wege und unter Einhaltung der bestehenden Gesetze.
 
In dieser Situation versuchte Victor Adler, der sich für die Verbesserung der Lage der Wienerberger Ziegelarbeiter einsetzte und 1886 die Zeitung Gleichheit gegründet hatte, den Streit der Fraktionen zu schlichten.
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Zur Jahreswende 1888/89 fand auf seine Initiative hin der Einigungsparteitag von Hainfeld statt; durch die Annahme des Hainfelder Programms wurde der Parteizwist für beendet erklärt und die SDAP neu gegründet.
 
Mit dem Einigungsparteitag von Hainfeld war zwar die politische und ideologische Grundlage geschaffen – die Partei besaß jedoch vorerst keine Tageszeitung, hatte keine Vertreter im Parlament, ja es gab nicht einmal eine Parteileitung oder ein Parteisekretariat. Am 12.7.1889 erschien schließlich die erste Ausgabe der Arbeiter-Zeitung und bereits 1890 kam es zu den ersten Maikundgebungen in der Monarchie. Neben der Parteiorganisation entwickelten sich nun auch andere sozialdemokratische Organisationen. 
 
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Die Freien Gewerkschaften, die 1893 auf dem ersten Allgemeinen Gewerkschaftskongress in Wien eine allumfassende Reichsgewerkschaftskommission gegründet hatten, sahen ihre Mitgliederzahl von etwa 60.000 im Jahr 1891 auf 157.773 im Jahr 1900, 205.000 im Jahr 1904 und 448.270 im Jahr 1906 steigen.

Unter dem Eindruck dieser Bewegung wurden weitreichende Sozialgesetze erlassen (Gewerbeinspektorate, 1883; Unfallversicherung, 1887; Krankenversicherung, 1888), die dem Arbeiterschutz dienten.

Die sozialdemokratischen Frauen schufen sich 1890 einen Arbeiterinnen-Bildungsverein und 1902 mit dem Verein sozialdemokratischer Frauen und Mädchen eine eigene Organisationsstruktur. Auch die Schaffung der sozialdemokratischen Bildungszentrale und der Beginn der Volkshochschulbewegung fällt in diese Zeit.

Um 1890 entstand die Arbeitersportbewegung; 1894 gründeten einige Lehrlinge in Wien den Verein jugendlicher Arbeiter, aus dem sich schließlich der Verband jugendlicher Arbeiter Österreichs, mit über 13.000 Mitgliedern die größte Jugendorganisation der Habsburgermonarchie, entwickelte. Das wichtigste politische Ziel war nun die Erringung des allgemeinen Wahlrechts

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Das österreichische Parlament setzte sich aufgrund eines Kurienwahlrechts zusammen, wobei ein Abgeordneter der adeligen Großgrundbesitzer im Durchschnitt 63 Wähler, ein Abgeordneter der in den Handelskammern vertretenen Industriellen gar nur 27 Wähler, ein Bauernabgeordneter 2.592 Wähler und ein Abgeordneter der steuerpflichtigen städtischen Bevölkerung 10.918 Wähler benötigte; zwei Drittel der Bevölkerung waren nicht wahlberechtigt und damit überhaupt nicht im Parlament vertreten.

Unter dem Druck großer Straßendemonstrationen richtete der Reichsrat im Jahr 1896 zu den vier Wahlkurien der privilegierten Klassen eine Kurie des Allgemeinen Wahlrechts ein. Fünf Millionen Wähler der fünften Kurie durften nun ebenso viele Abgeordnete entsenden wie die 5.000 Großgrundbesitzer.

TF_Arbeiterbewegung_Walrechtsdemo_1905_Illu_ASKOEAm 28. November 1905 riefen Partei und Gewerkschaften einen 24stündigen Generalstreik aus. Während die Arbeit im ganzen Land ruhte, gab es riesige Demonstrationen in den großen Städten; allein in Wien marschierten 250.000 Arbeiter vor dem Parlament auf.

Noch am selben Tag unterbreitete die Regierung dem Reichsrat eine Gesetzesvorlage über das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Im Mai 1907 fanden schließlich die ersten Wahlen aufgrund des allgemeinen Wahlrechts – freilich nur für Männer – statt. Mit einer Million von 4,5 Millionen Stimmen und 87 von 516 Abgeordneten ging die Sozialdemokratie erstmals als die stärkste Partei hervor.

Zu ernsthaften Konflikten innerhalb der Arbeiterbewegung kam es beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als es der Parteivorstand unterließ, die Arbeiterklasse gegen den Krieg zu mobilisieren und teilweise sogar in patriotischer Kriegsbegeisterung schwelgte. 

Die Parteilinke um Friedrich AdlerGabriele ProftTherese SchlesingerMax Adler und Robert Danneberg stand in entschiedener Opposition zum Parteivorstand und forderte einen sofortigen Frieden und entschiedene Maßnahmen gegen die zunehmende wirtschaftliche Not der Arbeiterklasse.

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Aus Protest gegen den Krieg, aber auch gegen die Haltung der Parteiführung, erschoss Friedrich Adler am 21. Oktober 1916 den Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh. Den folgenden Mordprozess nutzte Adler als propagandistische Bühne, um seine Kritik zu artikulieren und die Parteispitze wachzurütteln.

Unter dem Eindruck von Adlers Tat, des sich hinziehenden blutigen Krieges, aber auch durch die revolutionären Ereignisse in Russland bestärkt, schwenkte die Partei auf eine Anti-Kriegslinie um. Im Januar 1918 kam es zu ausgedehnten Streiks, den Arbeitern wurden Vertrauenspersonen zur Sicherung der Versorgung zugestanden.

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Am 12. November 1918 wurde nach dem Auseinanderbrechen der Donaumonarchie die Republik ausgerufen. Die Sozialdemokratie nahm bis 1920 an der Regierung teil und konnte bedeutende Gesetze im Sozial- und im Schulwesen durchsetzen.

Nach dem Austritt aus der Regierung setzten die Sozialdemokraten ihr Programm besonders in Wien und in einigen anderen Städten, in denen sie die politische Mehrheit innehatten, um. Besondere Bedeutung kam dabei den Freien Gewerkschaften zu. Während der Ersten Republik stand die sozialdemokratische Arbeiterbewegung unter dem Einfluss des Austromarxismus, und versuchte, durch Förderung von Sport, Wohnkultur und Bildung, völlig neue Kultur- und Lebensformen aufzubauen.

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Weit über Österreich hinaus fanden die Reformen im Schul- und Fürsorgewesen, in der Sozialgesetzgebung, v.a. aber der beispielgebende kommunale Wohnbau Beachtung. Einen sportlichen Höhepunkt bildete die Arbeiter-Olympiade von 1931 in Wien.

Die christliche Arbeiterbewegung blieb im Verhältnis dazu schwach. Erst mit dem Verbot der sozialdemokratischen Organisationen im Jahr 1934 und der Errichtung des austrofaschistischen Ständestaats kamen christliche Gewerkschafter in Führungspositionen. Erklärtes Ziel war die Schaffung eines einheitlichen Gewerkschaftsbundes, was allerdings zu keiner Aussöhnung mit den Sozialdemokraten führte. Auch der Nationalsozialismus versuchte auf die Arbeiterbewegung Einfluss zu nehmen: es wurden einige weitreichende Sozialgesetze geschaffen; organisatorisch versuchte man, die Arbeiter in der "Deutschen Arbeitsfront" und der "Kraft durch Freude"-Bewegung zusammenzufassen.

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Nach 1945 entstand die Arbeiterbewegung in veränderter Form. Unter den früheren Bürgerkriegsgegnern herrschte Einigkeit darüber, dass alle Formen der Diktatur und des Totalitarismus (Faschismus, Kommunismus) abzulehnen seien, weshalb die neugegründete SPÖ stets auf deutliche Distanz zur KPÖ bedacht war.

Der Österreichische Gewerkschaftsbund wurde als eine gemeinsame, überparteiliche Institution gegründet. Der soziale Aufstieg großer Teile der Arbeiterschaft in den 1960er und 1970er Jahren – v.a. unter den sozialdemokratischen Alleinregierungen der Ära Kreisky  veränderte das kollektive Bewusstsein der Arbeitnehmer und schuf die Illusion vom Ende der sozialen Gegensätze.

Der Siegeszug des Neoliberalismus und die Gefahren der Globalisierung zeigen allerdings, dass es auch hier kein "Ende der Geschichte" gibt, und stellen die internationale Sozialdemokratie vor ganz neue Herausforderungen.

Der seit 1959 bestehende Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung führt regelmäßig Tagungen durch und gibt zahlreiche Publikationen zum Thema heraus.

Literatur: Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 2001; Karl Frischauf, Die deutschen und österreichischen Arbeiterbildungsvereine und ihre Vorläuferorganisationen im 19. Jahrhundert, 2004; Hans Hautmann, Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919–1934, 1980; Hans Hautmann und Rudolf Kropf, Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945, 1978; Martina Klenner, Der Stellenwert von Bildung in der Entwicklung der österreichischen Arbeiterbewegung (1867 bis 1914), 1991; Franz Kreuzer, Was wir ersehnen von der Zukunft fernen. Der Ursprung der österreichischen Arbeiterbewegung, 1988; Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), Arbeiterbewegung in Österreich und Ungarn bis 1914, 1986; ders. (Hrsg.), Auf dem Weg zur Macht. Integration in den Staat, Sozialpartnerschaft und Regierungspartei, 1992.