Austromarxismus

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R_TF_Bauer_Otto3_VGADer Austromarxismus ist eine auf österreichischem Boden um die Jahrhundertwende entstandene Schule des Marxismus, dessen bekannteste Vertreter Otto BauerMax AdlerRudolf HilferdingFriedrich Adler, Gustav Eckstein und der junge Karl Renner waren. Geprägt wurde der Begriff, so Otto Bauer, vom amerikanischen Sozialisten L.B. Boudin.

Als überzeugte Marxisten versuchten sie, die marxistischen Theorien auf die von Nationalitätenkonflikten zerrissene Monarchie zu übertragen und einen Mittelweg zwischen der sozialdemokratisch geprägten Zweiten Internationale und der kommunistischen Dritten Internationale zu finden.

Der Austromarxismus zählt damit zu den Transformations- und Gesellschaftstheorien, die auch mit dem Begriff "Dritter Weg" bezeichnet werden: zwischen orthodoxem Marxismus – bzw. Leninismus, denn Max Adler erhob z.B. stets den Anspruch, ein "orthodoxer Marxist" zu sein – und der radikalen Linken (z.B. Rosa Luxemburg) auf der einen Seite und dem Revisionismus, der nur allzu oft in Resignation und Integration endete, auf der anderen. Besonders Otto Bauer versuchte durch seinen sogenannten "integralen Sozialismus" die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden, den Marxismus innerhalb der Sozialdemokratie weiterzuentwickeln und für die Tagespolitik anwendbar zu machen.

Als eines der wichtigsten Dokumente des Austromarxismus gilt das 1926 beschlossene Linzer Programm der SDAP. Otto Bauer erklärte den Austromarxismus unter anderem so: Wo die Arbeiterschaft gespalten ist, dort verkörpert die eine Arbeiterpartei die nüchterne Realpolitik des Tages, die andre [sic!] den revolutionären Willen zum letzten Ziel. Nur wo die Spaltung vermieden wird, nur dort bleiben nüchterne Realpolitik und revolutionärer Enthusiasmus in einem Geist vereint. Die Synthese beider – das ist das Linzer Programm, das ist, wenn man es so nennen will, der "Austromarxismus".

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Auf der einen Seite befürwortete der Austromarxismus demnach den Reformismus der Sozialdemokraten innerhalb der von der Arbeiterbewegung erkämpften demokratischen Institutionen, kritisierte jedoch deren Beschränkung auf eine Strategie bloßer Reformen.

Die Reformen, so die Austromarxisten, müssten letztendlich auf eine Überwindung des kapitalistischen Systems abzielen. Voraussetzung für die Hegemonie der sozialistischen Bewegung und damit für eine demokratische Eroberung der Macht sei v.a. die politisch-kulturelle Aufklärung.

Die Strategie der Austromarxisten formulierte Otto Bauer mit dem Bonmot: Nicht die Köpfe einschlagen, die Köpfe gewinnen! Erst nachdem die Arbeiterpartei friedlich durch die Mittel der Demokratie an die Macht gekommen sei, sollte die "soziale Revolution" durchgesetzt werden. Die Austromarxisten entwickelten kein dogmatisches Glaubensbekenntnis, sondern eine neue Gesellschaftstheorie. Die Menschen sollten durch sozialistische Bewusstseinsbildung langsam verändert und auf dieTF_Kommunaler_Wohnbau_BM09se Weise sollte ein "Neuer Mensch" geschaffen werden.

Den Anspruch der Sowjetunion auf Verkörperung eines allgemein gültigen Transformations- und Gesellschaftsmodells wies der Austromarxismus insbesondere wegen der undemokratischen Methoden der KPdSU beim Aufbau des Sozialismus entschieden zurück.

Als wichtigstes Theorieorgan dienten den Austromarxisten die von Max Adler und Rudolf Hilferding herausgegebenen "Marx-Studien".

Der Begriff des Austromarxismus wird heute nicht nur auf die austromarxistischen Theorien, sondern auch auf die austromarxistische Politik der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik angewandt – z.B. auf die Wohnungsbaupolitik oder auf die Erziehungsreformen im "Roten Wien".

Literatur: Detlev Albers (Hrsg.), Otto Bauer und der "dritte" Weg. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten, 1979; Erik Eberhard, Politische Strömungen der Arbeiterbewegung 2: Austromarxismus und Sozialdemokratie, 2001; Alfred G. Frei, Rotes Wien: Austromarxismus und Arbeiterkultur, 1984; Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus, 1985; Anton Pelinka (Hrsg.), Zwischen Austromarxismus und Katholizismus, 1993; Hans-Jörg Sandkühler (Hrsg.), Austromarxismus. Texte zu "Ideologie und Klassenkampf" von Otto Bauer, 1970.