Zentralverein der Wiener Lehrerschaft

12., Ruckergasse 40

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In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich, geführt v.a. von Karl Seitz, eine Bewegung junger Lehrer, die versuchte, die Probleme der Schulen in den größeren Kontext der allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu stellen. Am 18. Juni 1896 wurde im Alten Rathaus, 1., Wipplingerstraße 8, der "Zentralverein der Wiener Lehrerschaft" gegründet.

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Obmann des Vereins war Franz Wichtrei, zu seinen Stellvertretern wurden Karl Seitz und Alexander Pape gewählt, weitere Funktionen übernahmen u.a. Josef EnsleinOtto Glöckel, Georg Schmiedel, Alexander Täubler, Richard Krieg, Josef Washuber und Karl Denk.

Da der Verein gegen die klerikale Dominanz an den Schulen auftrat, schlossen sich ihm zunächst auch viele Deutschnationale an. Als deren Antrag, Frauen und Juden nicht aufzunehmen, von den Sozialdemokraten abgelehnt wurde, verließen sie ihn jedoch bald wieder. Auch massiver dienstrechtlicher Druck, v.a. von Seiten des christlichsozialen Bürgermeisters Karl Lueger, konnte die fortschrittlichen Lehrer nicht von ihrem Einsatz abbringen.

Von 1897 bis 1916 war Karl Seitz Obmann des Vereins; auf ihn folgte bis 1920 Josef Enslein, danach bis 1928 Karl Denk und bis zum Verbot im Jahre 1934 wiederum Enslein. Der Sitz des Vereins befand sich (nachweisbar seit 1922) in der Lange Gasse 20 im 8. Bezirk.

In der Ersten Republik bot sich zum ersten Mal die Möglichkeit, die Zielsetzungen des Vereins auch in die Praxis umzusetzen. Die Schulreformen des "Roten Wien", an denen die Mitglieder des Zentralvereins maßgeblichen Anteil hatten, erregten internationales Aufsehen, obwohl wegen der politischen Kräfteverhältnisse zahlreiche Kompromisse eingegangen und wichtige Anliegen zurückgestellt werden mussten.

Im Februar 1934 wurde der Zentralverein der Wiener Lehrerschaft verboten. Viele Mitglieder versuchten, ihre Arbeit in getarnten Organisationen fortzusetzen, v.a. im "Lehrerverein Paul Natorp", der nach dem fortschrittlichen deutschen Pädagogen Natorp (1854–1924) benannt war. Im April 1936 musste jedoch auch dieser Verein unter behördlichem Druck aufgelöst werden. Am 18. Januar 1937 wurden 20 Vereinsmitglieder, die im "Alpenbund" eine geheime Zelle aufgebaut hatten, verhaftet. Die illegale Arbeit wurde auch unter den weit härteren Bedingungen des Nationalsozialismus fortgesetzt; mehrere frühere Mitglieder des Zentralvereins fielen dem NS-Terror zum Opfer.

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Unmittelbar nach der Befreiung Wiens berief Josef Enslein für den 20. April 1945 die erste Besprechung zur Wiederbegründung des Zentralvereins ein. Am 7. Mai ging bei der sowjetischen Besatzungsmacht das Ansuchen um Genehmigung der Vereinstätigkeit ein, am 25. Mai fand bereits die erste Versammlung statt, an der mehr als 300 Vereinsmitglieder teilnahmen, und am 20. Juli 1945 – 50 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen im Juli 1895 – konnte auch die "Freie Lehrerstimme" wieder erscheinen. Neuer alter Obmann des Vereins war bis 1950 Josef Enslein.

Der Zentralverein der Wiener Lehrerschaft initiierte in weiterer Folge die bundesweite Zusammenfassung der sozialdemokratischen Lehrer im Sozialistischen Lehrerverein Österreichs (SLÖ), als dessen Wiener Landesgruppe der Zentralverein bis heute besteht. Als maßgeblich mitbestimmender Faktor hatte er wesentlichen Anteil an der Entfaltung des Schulwesens in der Zweiten Republik.

Publikationen: Freie Lehrerstimme, 1895–1934, 1945–2001; Mitteilungen des Zentralvereines der Wiener Lehrerschaft 1911–1928; Wiener freie Lehrerstimme 1931–1934; Mitteilungen des Zentralvereins der Wiener Lehrerschaft 1946–1969; ZV-Mitteilungen 1969–1973; Lehrerzeitung 1974–1996; LehrerInnenzeitung 1996–2001; Journal. Magazin des Zentralvereins der Wiener Lehrerschaft, ab 2002; Perspektive (erscheint 6 x jährlich).
Literatur: Henrietta Loos, Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft, 1996; Heinrich Salfenauer, Der Zentralverein der Wiener Lehrerschaft von seiner Gründung bis 1934, 1978.