Wiener Schulreform

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Eine neue Schulorganisation ist entstanden, das innere Wesen der Schule hat sich von Grund auf geändert. Das ist das Werk der Sozialdemokraten, die in Wien 1919 zur Herrschaft gelangten. In der Sorge um die Jugend, in der Erkenntnis, dass die Demokratie sich erst dann voll entfalten kann, wenn das Volk eine möglichst demokratische Ausbildung genossen hat, ging die Gemeinde planmäßig und wohlüberlegt vor. Solange die Sozialdemokraten in der Bundesregierung saßen, waren von dort Anregungen zum Schulumbau ausgegangen. Otto Glöckel

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Die sogenannte "Wiener Schulreform", die später auch nach ihrem Mentor Otto Glöckel benannt wurde, stützte sich auf drei Grundpfeiler:

1. Demokratisierung der Schulverwaltung (Einrichtung von Lehrerkammern und Elternvereinen).
2. Vereinheitlichung der Schule im Mittelstufenbereich (gemeinsame Mittelstufe der 10- bis 14jährigen, Einheitsschule).
3. "Innere Schulreform" mit den Prinzipien des Arbeitsunterrichts und einer Neuordnung der Unterrichtsstoffe.

Die Wiener Schulreform bündelte die verschiedenen Richtungen der modernen Pädagogik ihrer Zeit und machte diese Bestrebungen für die praktische Schulerziehung anwendbar. So etwa sollte die aus der Kunsterziehungsbewegung kommende Erlebnisdidaktik zu einem tragenden Prinzip nicht nur der musischen Fächer werden, sondern auch im Sachunterricht, in Heimatkunde und Naturkunde Anwendung finden.

Deutlich erkennbar sind auch die Einflüsse der reformpädagogischen Bewegung, etwa einer Maria Montessori (1870–1952), die eine "Pädagogik vom Kinde aus" forderte und die die Kinder als Individuen ansah, welche sich durch geeignete Anreize aus eigener Kraft entfalten und gewissermaßen "selbst erziehen" können – was implizierte, dass anstelle einer einseitigen Wissensvermittlung die spontanen schöpferischen Kräfte des Kindes freigesetzt und gefördert werden sollten –, des Russen Pawel Petrowitsch Blonskij (1884–1941), dessen "Produktionsschule" die Trennung von Kopf- und Handarbeit aufheben und die Schüler auf das Arbeiten in der modernen Industriegesellschaft vorbereiten wollte, des Amerikaners John Dewey (1859–1952), nach dessen praxisnahem Prinzip "learning by doing" sich das Denken aus den täglichen Erfahrungen des Handelns entwickeln sollte, oder des deutschen Philosophen und Pädagogen Paul Natorp (1854–1924), der die Bedeutung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen in den Vordergrund stellte und in der Praxis für eine sozialistische Bildungspolitik, insbesondere für eine unentgeltliche Volksschule und gleiche Bildungschancen für alle eintrat.

In diesem Zusammenhang kam auch der Sozialpädagogik und staatsbürgerlichen Erziehung eine besondere Rolle zu. Durch die Gemeinschaftserziehung sollte ein demokratischer Führungsstil und eine neue sozialethische Einstellung gegenüber den Mitmenschen erzielt werden.

Vor allem aber sollte das dualistische Schulsystem von "Bürgerschule" und Unterstufenmittelschule durch die Einrichtung einer "Allgemeinen Mittelschule" für alle 10- bis 14jährigen ersetzt werden.

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Als Unterstaatssekretär für das Schulwesen richtete Otto Glöckel 1919 neben der konservativen Ministerialbürokratie einen Stab von Fachleuten – die sogenannte "Reformabteilung" – ein, die eine gesellschaftspolitische Umorientierung des Bildungswesens mit stärkerer Betonung der Mittelstufe forderten.

In den neu errichteten Bundeserziehungsanstalten wurden bereits im Schuljahr 1919/20 Schulversuche in Richtung einer vereinheitlichten "Allgemeinen Mittelschule" gestartet, die später auf weitere Schulen ausgedehnt wurden.

Nach dem Bruch der Regierungskoalition auf Bundesebene im Herbst 1920 wurden diese Schulversuche vom Stadtschulrat für Wien an sechs Wiener Schulen fortgesetzt, wobei ab dem Schuljahr 1922/23 sowohl "Bürgerschullehrer" (heutige Hauptschullehrer) als auch Lehrer mit Universitätsausbildung gemeinsam unterrichteten. An diese gemeinsame Mittelstufe sollte sich eine neue "Oberschule" anschließen, die ab 1923 erprobt wurde; allerdings liefen diese Versuche ab dem Schuljahr 1927/28 aus.

Mit der Einführung des Gesamtunterrichts in der Volksschule wurde überdies die Zerfächerung des Unterrichts in einzelne Gegenstände überwunden. Für Schüler, die dem Unterricht wegen physischer oder psychischer Gebrechen nicht zu folgen vermochten, wurden eigene Sonderschulen eingerichtet. Und als unentbehrliche materielle Voraussetzung für die Schulreform führte die Gemeinde Wien die Unentgeltlichkeit der Lehr- und Lernmittel an den Wiener Pflichtschulen ein.

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Durch die Auseinandersetzungen zwischen dem Wiener Stadtschulrat und dem Unterrichtsministerium um die geplante Ausweitung des Schulversuchs kam es im Jahr 1926 zu einer veritablen "schulpolitischen Krise". Nachdem die Sozialdemokraten gestärkt aus den Nationalratswahlen im April 1927 hervorgegangen waren, wurden Verhandlungen zwischen den politischen Parteien aufgenommen, die schließlich in der Kompromisslösung des Hauptschulgesetzes von 1927 mündeten.

Die bei diesen Verhandlungen erzielten Resultate waren alles in allem bescheiden:

In der äußeren Organisationsform trat an die Stelle der dreiklassigen Bürgerschule die vierklassige Hauptschule mit zwei Zügen und der Übertrittsmöglichkeit in die Mittelschule. Die Lehrpläne in Hauptschule und Mittelschulunterstufe wurden einander angeglichen – wenn auch formal z.B. zwischen dem Lehrfach "Erdkunde" in der Hauptschule und "Geographie" in der Mittelschule unterschieden wurde. Hingegen scheiterten die Bemühungen der Reformer, praxisnahe Themen aus dem wirtschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Bereich in den Fächerkanon der Mittelschulen hineinzutragen, am hinhaltenden Widerstand der Konservativen, die sich "ihr" humanistisches Gymnasium nicht "ruinieren lassen" wollten.

Durch die Hauptschulverordnung des Jahres 1934 wurden die Hauptschulen wieder strikt von den Mittelschulen getrennt und die Lehrpläne von Reformideen weitgehend "gesäubert". Die Schulreform kam erst in den Großen Koalitionen der Nachkriegszeit, v.a. aber in der Ära Bruno Kreisky, wieder in Gang.

Literatur: Oskar Achs und Eva Tesar (Hrsg.), Schule damals - Schule heute. Otto Glöckel und die Schulreform, 1985; Ortrun Burger, Moderne Pädagogik im Grundriß, dargestellt am Beispiele der österreichischen, insbesondere der Wiener Schulreform, 1929; Otto Glöckel, Die österreichische Schulreform. Einige Feststellungen im Kampfe gegen die Schulverderber, 1923; ders., Drillschule, Lernschule, Arbeitsschule, 1928.