Jahoda-Lazarsfeld, Marie

26.1.1907, Wien – 28.4.2001, Sussex (GB)

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"Trotz Wirtschaftskrise, Inflation und Arbeitslosigkeit war diese Massenbewegung, deren Grundlage der Austromarxismus war,
erfüllt von einem Geist der Lebensbejahung, der – wie ich glaube – im 20. Jahrhundert keine Parallele hat."
Marie Jahoda, "Aus den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Forschung in Österreich", 1981

Marie Jahoda wurde in einem assimilierten jüdischen Elternhaus in Wien geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren trat sie – unter dem Einfluss von Paul F. Lazarsfeld – den sie in einer Ferienkolonie der berühmten Reformpädagogin Schwarzwald kennen gelernt hatte, dem sozialistischen "Wanderbund" bei, der später in der von Ludwig Wagner und Lazarsfeld gegründeten Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler aufging. Mit 19 Jahren wurde sie Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und entwickelte sich als "Mitzi" Jahoda in den folgenden Jahren zur politischen Aktivistin.

1926 nahm Marie Jahoda am neu gegründeten Pädagogischen Institut der Stadt Wien eine Ausbildung zur Volksschullehrerin auf und schrieb sich parallel dazu an der Universität in den Fächern Psychologie und Philosophie ein – eine wegen der engen personellen Verflechtungen beider Institutionen in den Personen des Ehepaares Bühler naheliegende Kombination.

Parallel zu ihrem Studium bei Charlotte Bühler war Jahoda im linken Flügel der SDAP und im Arbeitskreis sozialistischer Pädagogen politisch aktiv. 1927 heirateten Marie Jahoda und Paul F. Lazarsfeld, ab 1929 lebte das Paar im Karl-Marx-Hof, wo sich Marie Jahoda-Lazarsfeld auch als Bibliothekarin in der zugehörigen Arbeiterbücherei betätigte. 1930 kam Tochter Lotte zur Welt. Über ihren Mann knüpfte Marie auch enge persönliche Kontakte zur Spitze der Partei, u.a. auch zum damaligen Parteivorsitzenden Otto Bauer.

Anfang der dreißiger Jahre unterrichtete Jahoda als Hilfslehrerin an verschiedenen Wiener Schulen. Nach ihrer Entlassung aus dem Schuldienst, die mit ihrer "Konfessionslosigkeit" begründet wurde, war sie von 1931 bis 1932 kurzzeitig als Hilfsassistentin an dem von Otto Neurath gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum tätig, das sich die Visualisierung komplexer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Daten zum Ziel gesetzt hatte.

Ab 1933 war Marie Jahoda an der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle tätig, deren Leitung sie nach Lazarsfelds Entscheidung, Österreich bereits 1933 zu verlassen, übernahm. Weltberühmt wurde sie durch die mit Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel herausgegebene Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" (1933), die die Auswirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Menschen behandelte und bald zum "Klassiker" der modernen Umfrageforschung avancierte, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.

Nach dem Februar 1934 und dem Verbot der SDAP schloss sich Jahoda den Revolutionären Sozialisten an; über ihre Forschungsstelle wurde auch ein Teil der Korrespondenz mit der emigrierten Parteiführung abgewickelt. Im November 1936 wurde Marie Jahoda jedoch denunziert, während einer Polizeirazzia zusammen mit vielen ihrer Mitarbeiter verhaftet und im anschließenden Prozess zu drei Monaten Kerker und einem Jahr Schutzhaft verurteilt.

"Unter dem austrofaschistischen Regime waren die Wiener Gefängnisse nur Gefängnisse […] Ihr bei weitem übelstes physisches Merkmal waren die schauderhaften hygienischen Zustände. Würmer in der Erbsensuppe, Wanzen zu Tausenden." Marie Jahoda, "Ich habe die Welt nicht verändert", 2002.

Nach massiven internationalen Protesten – die Marienthalstudie hatte weltweite Resonanz gefunden – wurde Marie Jahoda vorzeitig aus der Haft entlassen, mit der Auflage Österreich innerhalb von 24 Stunden zu verlassen.

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Jahoda ging zunächst nach Großbritannien, zog 1945 in die USA, wurde 1949 zur Professorin für Sozialpsychologie an der New York University ernannt und kehrte 1958 nach Großbritannien zurück, wo sie 1965, als Höhepunkt ihrer akademischen Karriere, an der University of Sussex als erste weibliche Professorin in der Geschichte der britischen Sozialwissenschaften mit dem Aufbau einer sozialpsychologischen Abteilung betraut wurde.

Im Januar 2003 wurde die Volksschule VBS 16 (Vienna Bilingual School) in der Herbststraße 86 in Ottakring Marie Jahoda-Schule benannt. Die Verkehrsfläche in Wien 17., begrenzt von der Czartoryskigasse und dem Himmelmutterweg, heißt seit 2008 Marie-Jahoda-Gasse. 2012 richteten Oberösterreichs Sozialdemokraten – als Bindeglied zwischen praktischer Politik und wissenschaftlicher Forschung – das Marie Jahoda - Otto Bauer Institut ein. 2013/14 zeigte der Waschsalon Karl-Marx-Hof eine Ausstellung über die Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal". 2016 wurde Marie Jahoda mit einer Büste im Arkadenhof der Universität Wien geehrt.

Weitere Werke (Auswahl): Attitudes. Selected readings, 1966; Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert, 1983; Freud und das Dilemma der Psychologie, 1985; Arbeitslose bei der Arbeit. Die Nachfolgestudie zu "Marienthal" aus dem Jahr 1938, 1989; "Ich habe die Welt nicht verändert". Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung, 1997.
Literatur: Christian Fleck (Hrsg.), Marie Jahoda: Sozialpsychologie der Politik und Kultur – ausgewählte Schriften, 1995; Michael Kollmer (Hrsg.), Marie Jahoda, 2001; Franz Kreuzer (Hrsg.), Des Menschen hohe Braut – Arbeit, Freizeit, Arbeitslosigkeit, 1983; Reinhard Müller (Hrsg.), Marie Jahoda 1907–2001. Pionierin der Sozialforschung, 2002; Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft, Bd. 2. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, 1988.