Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle

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Etwa um das Jahr 1927 fasste Paul F. Lazarsfeld den Plan, am Psychologischen Institut der Universität Wien, das von Karl und Charlotte Bühler geleitet wurde, und an dem Lazarsfeld neben seiner Tätigkeit als Mittelschullehrer als wissenschaftliche Hilfskraft beschäftigt war, eine Abteilung für Sozialpsychologie zu errichten. Dieses Institut sollte es ihm ermöglichen, Auftragsforschung durchzuführen, um auf diese Weise Geldmittel für seine geplanten sozialpsychologischen Untersuchungen zu beschaffen.

Diese Idee nahm um 1930 in Form der "Wiener Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle" konkrete Gestalt an. Als Präsident der erst 1931 ins Vereinsregister eingetragenen Forschungsstelle fungierte Karl Bühler, unterstützt von einem 38köpfigen Beirat, der nach Otto Neurath eine beinahe unvorsellbar fabulöse Ansammlung von bekannten Namen und hohen Titeln enthielt.

Die Spezialität der neuen Forschungsstelle war die Anwendung psychologischer und sozialpsychologischer Forschungsmethoden auf Konsumentenverhalten und Käuferpräferenz. Aufträge waren in den ersten Jahren allerdings nur schwer zu bekommen, da die Industrie noch nicht erkannt hatte, wie nützlich gute Marktforschung sein kann. Vierzig Jahre später beschrieb Hans Zeisel, einer von Lazarsfeld frühesten Mitarbeitern, die damalige Situation der jungen Forscher: Marktforschung zu verkaufen war damals ungefähr so einfach, wie ein Zweirad zu verkaufen an jemanden, der von so einer Maschine noch nie gehört hatte. Etwa so: Ich möchte Ihnen eine Maschine verkaufen, die aus zwei Rädern besteht, auf denen Sie sich bequem, rasch und ohne Schwierigkeiten weiterbewegen können. Ungefähr so leicht war es, die ersten Marktforschungsstudien zu verkaufen. 

Die erste größere bezahlte Studie war eine Hörerbefragung für Radio Wien im Jahre 1931. Der endgültige Durchbruch gelang, als eines der Kuratoriumsmitglieder, der Industrielle Mautner Markhof, sich in einem Schreiben für die Dienste der Forschungsstelle bedankte und darauf hinwies, dass der Absatz des betreffenden Produkts im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent zugenommen habe.

Auf der Liste der Produkte, deren Absatzchancen von den Forschern im Auftrag der Industrie ausgelotet wurden, standen Bier, Blumen, Butter, elektrische Geräte, Essig, Fett, Fremdenverkehr (...) über Kaffee, Kleiderständer, Kölnischwasser, Kunstseide, Radio, Schokolade, Schuhe – bis zu Waschanstalt und Wolle (Zeisel). Denn, wie Lazarsfeld später seinen Studenten an der Columbia University New York erklärte: Es gibt keine edlen und unedlen Gegenstände der Forschung. 

Die aufwendigste und bekannteste Arbeit der Forschungsstelle wurde zum Klassiker der empirischen Sozialforschung: "Die Arbeitslosen von Marienthal", 1933 erstmals ohne Verfasserangabe publiziert und später in viele Sprachen übersetzt. Diese von Paul Lazarsfeld gemeinsam mit Marie Jahoda-Lazarsfeld und Hans Zeisel verfasste Untersuchung behandelte die Auswirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Menschen.

Nach der Entscheidung Lazarsfelds, bereits ab 1933 in den USA zu leben, übernahm Marie Jahoda kurzzeitig die wissenschaftliche Leitung der Forschungsstelle. Ende 1934 wurde der Verein allerdings wegen interner Differenzen aufgelöst. Als Nachfolgeorganisation fungierte – wiederum mit Marie Jahoda als Leiterin – die "Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle", die bis 1936 u.a. im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung tätig war. Nach dem Februar 1934 wurde über diese Arbeitsgemeinschaft auch ein Teil der Korrespondenz mit der emigrierten Parteiführung abgewickelt. Marie Jahoda wurde jedoch denunziert und im November 1936 zusammen mit ihren Mitarbeitern verhaftet.