Siedlerbewegung

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Die Siedlerbewegung der 1920er Jahre ging ursprünglich aus einer Bewegung "wilder Siedler" hervor, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – zumeist im Wienerwald – illegale Behausungen errichteten. Bereits in den letzten Kriegsjahren war es zu zahlreichen illegalen Rodungen zur Beschaffung von Brennholz gekommen, die von den Behörden mehr oder weniger geduldet worden waren. Nun gesellte sich zur Nahrungsmittelknappheit auch noch die dramatisch verschlechterte Wohnsituation.

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Im September 1920 besetzten obdachlose Kriegsbeschädigte, die ihr Schicksal nach dem Krieg selbst in die Hand nahmen, das Gelände des Lainzer Tiergartens, das nach Kriegsende in das Vermögen des Kriegsbeschädigtenfonds übergegangen war, um von der Gemeinde die Bewilligung zur baulichen Erschließung des Geländes zu erhalten. Bald formierten sich zahlreiche, einander unterstützende Selbsthilfeorganisationen, die schließlich auch von der Gemeinde Wien gefördert wurden.

Eckpunkte dieses "dritten Weges" jenseits von Markt und Staat oder Gemeinde waren das gemeinnützige Genossenschaftseigentum am Haus, der eigene Arbeitseinsatz – die Siedler hatten in der Regel mindestens 1.000 bis maximal 3.000 unbezahlte freiwillige Arbeitsstunden abzuleisten –, eine gemeinschaftliche Infrastruktur und die Selbstverwaltung.

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Ein interessantes Experiment wurde etwa beim Bau der Siedlung Am Rosenhügel durchgeführt: Um einen größtmöglichen Arbeitseinsatz zu erreichen, wurde den Siedlern während der Bauzeit keine bestimmte Parzelle zugewiesen; die Zuteilung der fertigen Häuser erfolgte schließlich per Losentscheid.

Als Bindeglied zwischen der Kommunalverwaltung und den Siedlern fungierten die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt (GESIBA), die die Baustoffversorgung sicherstellte und als gemeindeeigene Gesellschaft bald Österreichs größter Bauträger werden sollte, sowie das von Adolf Loos geleitete Siedlungsamt der Gemeinde Wien. Loos gab die Parole "große Architekten für kleine Häuser" aus und stand in einer von ihm organisierten "Bauschule" den Siedlern mit Rat und Tat zur Verfügung. Loos und seine Kollegen scheiterten jedoch mit vielen ihrer hochtrabenden Pläne sowohl am Unverständnis der Siedler als auch an der Ablehnung der konservativen Beamtenschaft. Außerdem verfolgte die Gemeinde Wien mit ihrem 1923 vorgelegten Wohnbauprogramm bald eigene ehrgeizige Ziele, so dass die genossenschaftliche Siedlungsbewegung etwas ins Hintertreffen geriet.

Die Bilanz ist dennoch beeindruckend: Innerhalb weniger Jahre wurden in insgesamt fast 50 Siedlungsanlagen rund 15.000 Wohneinheiten – meist in Reihenhäusern – geschaffen, die bis heute große Teile der Stadtrandgebiete Wiens prägen.

Literatur: Robert Hoffmann, "Nimm Hack' und Spaten ...". Siedlung und Siedlerbewegung in Österreich 1918-1938, 1987; Klaus Novy und Günther Uhlig, Die Wiener Siedlerbewegung 1918-1934, 1982; Inge Podbrecky, Rotes Wien, 2003; Ulrike Zimmerl, Wiener Siedlerbewegung und Siedlungswesen in der Zwischenkriegszeit, 1998.