Jugendtreffen 1929

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Die Jugend marschiert, das innere Wien ist ein Meer von Musik, Gesang, von Farbe und Leben.

Das größte Jugendtreffen in der Geschichte der sozialistischen Bewegung fand vom 12. bis 14. Juli 1929 in Wien statt. Etwa 50.000 junge Menschen aus 18 Nationen nahmen an diesem Internationalen Sozialistischen Jugendtreffen teil.

Der Abschlussbericht des Jugendtreffens listete alle Teilnehmer nach Nationen auf: Amerika 3, Belgien 100, Bulgarien 62, Danzig 25, Dänemark 161, Deutschland 12.844, Estland 8, England 3, Finnland 59, Frankreich 6, Holland 521, Jugoslawien 3, Lettland 17, Österreich 5.478 (Provinz), Palästina 30, Polen 686, Rumänien 25, Schweden 337 – ihre Anreise dauerte zwei Tage und zwei Nächte –, Schweiz 89, Tschechoslowakei (tschechisch) 1.240, (deutsch) 881 und (polnisch) 114, Ungarn 78, Studentenföderation – darunter Mitglieder der Labour-Studenten – 66, Wien 15.500.

Die Teilnehmer wurden gebeten, ihre Eindrücke festzuhalten. Aus den tausenden Einsendungen entstand das Buch "Rote Jugendfahnen über Wien", das einige Wochen nach dem Jugendtreffen erschien.

Ein Teilnehmer schildert darin den "Triumphzug nach Wien": Die Vorstädte: Winken von jedem Fenster, aus jedem Hof, jedem Garten. Dann riesige Neubauten, moderne Farben, neuer Stil: Karl-Marx-Hof. Alle Fenster offen, eine ununterbrochene Reihe winkender Hände, rote Fahnen durch alle Stockwerke. 

Jetzt der Bahnhof. Musik. Plötzlich hat sich ein Zug gebildet. Wir wollten singen, aber wir werden überstimmt von den frenetisch jubelnden Wienern. Uns gegenüber eine Menschenmauer; im Sprechchor ertönt es: "Freundschaft! Freundschaft!" 

Höhepunkte des Jugendtreffens waren ein Sportfest auf der Hohen Warte, ein Fackelzug zum Rathaus und ein Festzug über die Ringstraße und die Hauptallee.

12. Juli 1929 

Das Treffen wurde am Vormittag des ersten Tages am Heldenplatz feierlich eröffnet. Zum Auftakt ertönte die Festfanfare von Richard Strauss, es folgte der "Wach auf"-Chor aus Wagners "Meistersingern". Dann sprachen Felix Kanitz für die Sozialistische Arbeiterjugend, der Wiener Bürgermeister Karl Seitz und der Holländer Koos Vorrink als Redner der Sozialistischen Jugendinternationale.

Anschließend wurde auf der Terrasse der Hofburg die Fahne der Sozialistischen Internationale aufgezogen. Am Nachmittag fanden Führungen durch Wien statt, am Abend gab es fünfundzwanzig verschiedene Feiern, Theateraufführungen und Konzerte.

 

13. Juli 1929 

Am zweiten Tag wurden Vorträge über Wien und seine Leistungen sowie über die sozialistische Bewegung in deutscher, französischer und tschechischer Sprache gehalten, am Nachmittag fand auf dem Sportplatz auf der Hohen Warte das große Sportfest statt.

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Am Abend zog man mit einem "mächtigen Fackelzug" die beiden Seiten des Donaukanals entlang bis ins Zentrum der Stadt vor das beleuchtete Wiener Rathaus.

Ein deutscher Telnehmer schilderte den Fackelzug folgendermaßen: Zu beiden Seiten der Donau ein flammensprühendes Band. Es flutet und ebbt wie ein brennendes Meer, jetzt ergießt es sich über die Brücke, Symbol der Verständigung: die beiden Ströme vereinigen sich zu einer Flut. Es jubeln die Massen, die das Spalier bilden, die Jugend singt, die Akkorde der Musikkapellen durchbrausen die Straßen, die ganze Stadt erklingt. Tränen sehe ich in den Augen einzelner, Tränen der Freude und der Begeisterung.

Auch mir geht es heiß durch die Brust, ein Ruf, ein Sang erhebt sich, pflanzt sich fort durch alle Gassen: "Nie wieder Krieg!" So marschieren wir im Fackelschein im Rhythmus unserer Lieder, bis sich der Fackelglanz mit dem Licht vermählt, das uns entgegenflutet. Was ist das? Ein Feenschloß? Nein, es ist das Rathaus von Wien, das stolze Bollwerk des Sozialismus in Europa. 

14. Juli 1929 

Am dritten Tag, einem strahlenden Sommertag, fand um 10 Uhr auf dem Rathausplatz die Schlusskundgebung statt. Zuerst sprach Friedrich Adler als Vertreter der Sozialistischen Arbeiterinternationale, dann Walter Citrine, der Vorsitzende des Internationalen Gewerkschaftsbundes, danach Otto Bauer. Bauer schloss seine Rede mit den Worten: Ihr, die Jungen, die ihr die Erben der Freiheitskämpfe aller Jahrhunderte seid, ihr habt die Aufgabe, zu vollenden, was die Generationen vor euch begonnen haben. Ihr werdet das Ziel erreichen und die Vollendung sehen, dass das Kulturerbe der Menschheit allen Völkern zu eigen sein soll. Deshalb soll die Erinnerung an den heutigen Tag eurem Leben Sinn und Ziel und Würde geben. Der Menschheit Freiheit, der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben. Ihr werdet sie bewahren. 

Nachdem Karl Heinz, der Vorsitzende der Sozialistischen Internationale, die Kundgebung beendet hatte, folgte ein kilometerlanger Festzug über die Ringstraße durch die Hauptallee in den Prater. Jeder Gruppe wurden Fahnen vorangetragen, Standarten bezeichneten die Herkunft der einzelnen Gruppen: Deutsche kommen in blauen, grünen, gelben Wanderkitteln, Mädchen in bunten Kleidern [...…] Gruppen von tschechischen Mädchen in ihren bunten Volkstrachten, dann Jungen und Mädchen aus Palästina mit weißen, turbanartigen Kopftüchern, Schweden mit ein paar Mädeln in alter Bauerntracht. [...…] 

Eine junge tschechische Lehrerin gab die Grundstimmung der Veranstaltung höchst treffend wieder: Es gibt Augenblicke, wo wir fühlen, wie viel mehr der Sozialismus bedeutet als eine politische Überzeugung, dass er eine Weltanschauung ist, die sich des Denkens der Masse so stark bemächtigt, wie vormals die Religion. Eine sittliche Überzeugung, die uns durch die Pflicht zur Gemeinschaft bindet. Denn wir haben erkannt, dass wir gleich leiden und uns gleich sehen, dass das alleinstehende Individuum zugrunde geht und dass es schön ist, sich als Teil eines Ganzen zu fühlen, dass wir für ein besseres Morgen kämpfen. Ich sah die neuen Häuser Wiens, ich sah große und reine Stuben mit genügend freiem Raum vor den Fenstern, sah herzerfreuendes Grün, Spielplätze und Bassins mit jauchzenden Kindern. Diese neuen Häuser, neuen Bäder, neuen Schulen und das Schönste, das wir von Wien sahen, sie sind das Versprechen einer neuen sozialistischen Welt, ihr positives, frohes Zeugnis für uns Auswärtige, Beispiel und Ansporn. 

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Und sie schloss mit den Worten: Wenn ich nach Hause komme, werde ich in der Schule nicht nur über die alten Kulturen sprechen. Ich werde von den fünfzigtausend jungen Menschen berichten, die aus aller Welt zusammengekommen sind, um sich über die Grenzen von Völkern und Rassen die Hände zu gemeinsamer Arbeit zu reichen, und von der gastlichen Stadt, wo die regierenden Sozialisten die Idee einer neuen Welt verwirklichen. 

Zur 50jährigen Wiederkehr des großen Internationalen Jugendtreffens wurden die Teilnehmer von damals nach Wien eingeladen. In der "Festschrift zum Wiedersehen in Wien vom 28. April bis 1. Mai 1979 – 50 Jahre nach dem Internationalen Sozialistischen Jugendtreffen von 1929" schrieb Manfred Ackermann: 

In den großen Kundgebungen des Internationalen Jugendtreffens bekundete die sozialistische Jugend ihren Willen und ihre Entschlossenheit, die ihr gestellten organisatorischen, politischen und erzieherischen Aufgaben zu erfüllen: zu lernen und zu kämpfen, lernend zu kämpfen und kämpfend zu lernen, um so fähig zu werden, im Ringen um eine neue Welt zu siegen.

Und der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky meinte im Vorwort: Unauslöschlich ist uns allen die Erinnerung an diese Tage. In den düstersten Zeiten politischer Bedrängnis haben wir uns die Erinnerung an dieses große Erlebnis unserer Jugend bewahrt. Es waren Tage erlebter internationaler Gemeinschaft und Solidarität, es war, wie wenn der Geist der Internationale für drei Tage lebendige Wirklichkeit geworden wäre.

2019/20 zeigte der Waschsalon Karl-Marx-Hof eine Sonderausstellung über das Internationale Sozialistische Jugendtreffen.

Literatur: Wieder im Roten Wien. Festschrift zum Wiedersehenstreffen in Wien, 1979.