1. Mai 1890

 

Auf Initiative von Karl Marx wird 1864 die "Internationale Arbeiterassoziation" gegründet, die später als Erste Internationale bezeichnet wird. Nachdem sie an ihren inneren Gegensätzen gescheitert war, wird am 14. Juli 1889 in Paris die Zweite Internationale als Vereinigung selbständiger sozialistischer Parteien gegründet. Die Vertreter Frankreichs beantragen, den 1. Mai – im Gedenken an einen Generalstreik in den USA am 1. Mai 1886 – zum internationalen Kampftag für den Achtstundentag zu erklären. Der Antrag wird mit großer Mehrheit gebilligt. Der Festtag des Proletariats ist geboren.

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Am 1. Mai 1890 wird der neue Kampftag von den Sozialdemokraten in Wien und anderen Städten erstmals festlich begangen. Die Parole lautet "8-8-8" (Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Erholung).

Von staatlicher Seite wird betont – u.a. durch einen Erlass des Statthalters im Erzherzogtum Österreich unter der Enns, dem auch Wien untersteht –, dass eine Arbeitsniederlegung am 1. Mai gesetzwidrig sei. Die Zeitungen versuchen unter der Bevölkerung Panikstimmung zu erzeugen.

So schreibt die "Neue Freie Presse" am 1. Mai 1890 im Leitartikel: Die Soldaten sind in Bereitschaft, die Tore der Häuser werden geschlossen, in den Wohnungen wird Proviant vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet, Frauen und Kinder wagen sich nicht auf die Gasse. 

Die Arbeiter reagieren mit Ruhe und Disziplin. Überall in Wien und in den meisten Industriestädten Österreichs wird die Streikparole befolgt. Vormittags gibt es in Wien etwa sechzig Versammlungen, nachmittags ziehen mehr als 100.000 Arbeiter in den Prater. Es ist die größte Kundgebung, die Wien bis dahin erlebt hatte. In der Arbeiter-Zeitung vom 23. Mai 1890 schreibt Friedrich EngelsFeind und Freund sind sich einig darüber, dass auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten begangen hat. 

Victor Adler erlebt diesen Tag in der Zelle 32 des Wiener Landesgerichts. Er war am 27. Juni 1889 wegen "anarchistischer Bestrebungen" zu vier Monaten Haft verurteilt worden und muss diese Strafe kurz vor dem 1. Mai 1890 antreten.

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Offenbar hatte die Regierung gehofft, mit der Inhaftierung Adlers die Vorbereitungen für den 1. Mai stören zu können. Die Hoffnung geht nicht in Erfüllung. Der gelernte Bildhauergehilfe Ludwig Bretschneider, den Adler bei der Gründung der Zeitung Gleichheit als Redakteur und Verwalter geholt hatte, übernimmt die Leitung des Organisationskomitees für die Maikundgebung, die dann ohne ernsten Zwischenfall verläuft. Der 1. Mai 1890 beweist, dass es der SDAP in unglaublich kurzer Zeit, knapp mehr als ein Jahr nach ihrer Gründung, gelungen ist, die Arbeiter zu organisieren und zu mobilisieren.

Die Straßen und Gasthäuser im Prater bleiben am Nachmittag des 1. Mai Treffpunkt der Wiener Sozialdemokraten, bis 1932 erstmals im Praterstadion eine Festkundgebung veranstaltet wird.

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Bis 1907 steht der Kampf für das allgemeine und gleiche Wahlrecht im Zentrum der Maifeiern. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg werden die Demonstrationen zu eindrucksvollen Kundgebungen für den Frieden und die internationale Solidarität. Der Weltkrieg unterbricht die Tradition der Maifeiern.

Als die Sozialdemokratie ihre betont nationale Haltung überwunden hat, stellt sie am 1. Mai 1917 und 1918 ihre Friedensvorstellungen den Kriegszielen der Regierung gegenüber.

Die neue staatspolitische Bedeutung der Sozialdemokratie findet im Beschluss des Nationalrats vom 25. April 1919 ihren Ausdruck, mit dem der 1. Mai zum Staatsfeiertag erklärt wird.